Ingrid K. Ebert

Schriftstellerin

 

Blickwechsel

Mit neun Jahren dachte ich: „Ich weiß, dass alle Menschen sterben müssen, aber ich kenne niemanden, der schon gestorben ist.“ Inzwischen kenne ich viele.

Ende der 60er Jahre hieß es: „Trau keinem über 30!“ Mit 15 Jahren hätte ich nicht geglaubt, wie jung man mit 30 ist. 26jährig lag ich zur Entbindung im Krankenhaus. „Ganz schön alt fürs erste Kind“, hörte ich eine Kinderschwester sagen. Ich war empört. Wirklich alt, das war dann in meinen Augen eine Mitgebärende. Sie hatte zwei erwachsene Söhne und ging auf die 40 zu. Da fangen heutzutage viele Frauen erst an, über ein Kind nachzudenken.

„Sie hat doch ihr Leben gelebt“, sagte eine junge Frau, als ich ihr vom Tod einer Rentnerin erzählte. „Unser Leben währet siebzig Jahre“, steht in der Bibel. Nein, möchte ich entgegnen. 70 ist das neue 60. Inzwischen sehe ich die 70jährigen aus einem anderen Blickwinkel. Kein Wunder, werde ich doch, so Gott will, in diesem Jahr 75.

„Wie schaffen Sie das, heute so ganz anders zu reden als vor der Wende“, fragte ich Angang der 90er Jahre meinen Geschichtslehrer. Er: „Ich habe meinen Standpunkt gewechselt.

Nicht nur die Lebensjahre sorgen für einen sich ständig verändernden Blickwinkel. Die Welt um uns wandelt sich und damit auch unser Standpunkt und die Perspektive. Wir sehen heute Dinge anders, als noch vor Jahren.  Mein Glaube hat sich geändert. Meine Ansichten haben sich geändert. Und ich möchte sagen: Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern, wenn ich heute klüger bin? Vor Jahren habe ich in einem Gedicht geschrieben:

 

„Ja, ich habe einen Standpunkt,

aber ich schlage keine Wurzeln.

Such mich nicht heute im Gestern.

Wo ich bin?

Auf dem Weg.

Be-weg-lich.

Frei, nicht gefangener meiner Meinung.

Jetzt stehe ich hier

Und ich stehe dazu

Bis zum nächsten Schritt.“

Manche wundern sich, dass wir Ostdeutschen einen ganz anderen Blick auf das politische Geschehen haben, als die Menschen der alten Bundesländer. Dabei ist das doch normal. Jeder kommt aus seiner Geschichte. Jeder ist geprägt von Feind- und Freundbildern. Jeder betrachtet die Welt von seinem Standpunkt aus und zeichnet die Bilder seiner Erkenntnis aus seiner Perspektive. Die Ergebnisse können sehr unterschiedlich sein.

„Sag mir, wo du stehst und welchen Weg du gehst“, hieß es in einem Propagandalied meiner Jugend. Und Jörg Swoboda setzte dem entgegen: „Unser Standpunkt, der für alles bestimmend ist, soll Gott sein. Unsre Meinung soll er prägen zum Ja und Nein. Er allein.“ Ja, auf den Standpunkt kommt es an. Der bestimmt, wie ich die Welt sehe, was ich von ihr sehe. Manchmal reicht es schon, die Straßenseite zu wechseln, um Neues zu entdecken. Eingefahrene Wege bewusst verlassen. Über den Tellerrand schauen. Mal nicht den Stammplatz im Gottesdienst einnehmen, sondern sich auf die andere Seite setzen. Mein Standpunkt bestimmt meinen Blickwinkel.  Aus der Froschperspektive sieht die Welt anders aus, als aus der Vogelperspektive. Im Abstand gesehen, relativiert sich manches. Es ist schon viel gewonnen, wenn ich begreife: In den meisten Entscheidungssituationen unseres Lebens gibt es kein richtig oder falsch. Es gibt nur ein anders. Denkmuster lassen sich aufbrechen. Als Redakteurin habe ich bei wichtigen Beiträgen oft versucht, sie mit den Augen der verschiedenen Leser zu lesen. Wer seinen Blickwinkel ändert, ändert seine Sicht und damit seine Einstellung. Wer auf seinem Standpunkt verharrt, ist einfach nicht lernfähig. Die des Weges sind, nannte man die ersten Christen. Wer unterwegs ist, verändert ständig seinen Standpunkt. Er lernt ständig dazu. So möchte ich sein. Beweglich. Von einem Kind kann ich nicht erwarten, sich in die Lage alter Menschen zu versetzen. Ein Kind weiß nicht, wie es ist, alt zu sein. Aber Alte wissen, wie es ist, Kind zu sein. Wer einen weiten Weg gegangen ist, weit herumgekommen ist und viele Menschen kennengelernt hat, der kann leichter andere Positionen einnehmen. Er kann die Dinge aus einer größeren Distanz betrachten. Das ist der Vorteil jahrelanger Erfahrung. Hilfreich ist es, das Gespräch mit anderen zu suchen. Wie siehst du das? Und warum? Hilfreich ist es, seinen eigenen Horizont immer wieder zu erweitern. Ich bin dankbar für Freunde, die aus anderen Kulturkreisen kommen. Sie bereichern mich. Ich möchte mich in die Lage anderer versetzen können. Ich möchte offen sein für andere Standpunkte. Nur so kann Gespräch gelingen. Paulus schreibt im 1.Korinterbrief: „Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.  Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und war klug wie ein Kind und hatte kindische Anschläge; da ich aber ein Mann ward, tat ich ab, was kindisch war.  Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich’s stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.“ Dann blicke ich nicht mehr aus einem Winkel, sondern darf das Ganze sehen. Ich freue mich darauf.                                                                                     Ingrid Ebert

Erschienen in “Miteinander unter

 

Stell dich mitten in den Regen 

Freiheit ist mein zweiter Name. Ich war schon als Kind nicht gerne fremdbestimmt. Das machte es denen, die mit mir zu tun hatten, die mich erziehen oder belehren wollten, nicht gerade leicht. „Kinder mit ‚nem Willen, kriegen eins auf die Billen“. Ich weiß, die meisten sagen „Brillen“, weil sie mit dem plattdeutschem „Billen“ nicht viel anfangen können. Die Billen, das sind die Pobacken, und die mussten in meiner Kindheit noch häufig herhalten. Wer nicht hören kann, muss fühlen. Oft aber hieß es nur: „Vermaul dich nicht!“  „Halt den Mund, wenn Erwachsene sprechen!“ „Pass auf kleiner Mund, was du sprichst!“

In der DDR groß geworden, lernte ich schnell, was ich wo sagen darf oder besser nicht. Aber weil ich ungern fremdbestimmt war, hielt ich mich nicht immer daran, provozierte mit Worten und Taten, eckte an. Im Grunde genommen hat sich bis heute daran nicht viel geändert.  Ich möchte frei sein, zu sagen, was ich denke, frei sein, Gedanken umzusetzen in Taten, frei sein, ja zu sagen oder nein. Wo ich das nicht kann, geht es mir nicht gut.

Der Frühling, die Jahreszeit, in der eigentlich alles auflebt, war in diesem denkwürdigen Jahr 2020 so ganz anders. Gerade noch genossen mein Mann und ich einen Kurzurlaub im Dresden, lachten über „Leise flehen meine Glieder“ im Kabarett der Herkuleskeule. Gerade noch erlebten wir ein großartiges Konzert mit dem Keimzeit Akustik Quintett. Gerade noch saßen wir im vollbesetzten Staatstheater Cottbus und beschlossen, unseren Kindern unbedingt Karten für den „Antifaust“ zu schenken, so begeistert waren wir, da hieß es von heute auf morgen: plus rien ne marche.  Nichts geht mehr. Kein Konzert, keine Theatervorstellung, Museen und Bibliotheken geschlossen. Keine Besuche machen und keine Besuche empfangen. Keine Gottesdienste feiern, nicht einmal zu Ostern, keine Freundestreffen, keine Alten- und Krankenbesuche. Kein Bummel durch die Stadt. Kein Picknick auf einer Wiese. Kein spontaner Ausflug. Kein Auswärtsessen. Keine Urlaubsreise. Keine Feste, keine Feiern, nicht einmal Trauerfeiern. Nichts geht mehr. Dafür Desinfektionsmittel, Mund- und Nasenschutz, Abstandsregeln und jede Menge Vorschriften. Das ist eigentlich nichts für Mutters Tochter.

Konnte man mir verbieten, meinen betagten Vater im Pflegeheim zu besuchen, meinen kranken Sohn in die Arme zu schließen, mich mit Freunden zu treffen, Gemeinschaft zu pflegen, einen Trauernden zu umarmen, ein Kind zu liebkosen? Ja, man konnte. Und ich habe mich, wie fast alle anderen an die Vorgaben gehalten. Fremdbestimmt. Ich habe niemanden mehr besucht, und ich bekam keinen Besuch mehr. Niemand klingelte an der Tür, weil er meine Hilfe brauchte. Niemand saß mehr in unserem Wohnzimmer, um zu reden.

Beinahe über Nacht haben wir alle unser Verhalten total geändert. Wie manipulierte Marionetten, fremdgesteuert. Wie ist uns das gelungen bzw. wie ist das der Regierung gelungen, dass wir das alles mitgemacht haben oder mit uns haben machen lassen?

Vor allem mit Angst. Wer Verhalten so total ändern will oder auch muss, der muss Angst machen. An Einsicht zu appellieren, genügt da nicht. Für den Lockdown brauchte es starke Gefühle. Todesangst. Und so saugten wir auf, was uns die Medien vorsetzten: Schreckensbilder von Corona-Kranken, Massengräber in fernen Ländern, Vorträge und Zahlen, Chaos in Kliniken, Beatmungsgeräte, gruslige Geschehnisse, Panik. Der irisch-britische Schriftsteller Edmund Burke sagte einmal „Keine Emotion beraubt den Geist so vollständig von seinen Möglichkeiten zu handeln und zu denken wie die Angst.“ Nun ist Angst ja das Gegenteil von Freiheit. Was macht ein freiheitsliebender Mensch, wie ich, in solchen Zeiten?

Während ich schreibend über Freiheit und Corona nachdenke, höre ich ein langvermisstes Geräusch. Es regnet. Da mache ich doch gleich einmal eine Denk- und Schreibpause und gehe in den Garten. Und wie ich so im Regen stehe, fallen mir Worte von Wolfgang Borchert ein, einem der bekanntesten deutschen Autoren der sogenannten Trümmerliteratur:

„Stell dich mitten in den Regen,
Glaub an seinen Tropfen Segen.
Spinn dich in das Rauschen ein
Und versuche gut zu sein.“

Jeder hat diese Zeit des Lockdowns anders erfahren und anders genutzt. Ich kenne Menschen, die ängstlich in ihren Wohnungen ausharrten, ich kenne andere, die ständig in sich hineinlauschten und bei einem Hustenanfall Panik kriegten. Manche haben aber auch versucht, das Beste aus der Situation zu machen. Musiker aus meiner Heimatstadt spielten mutterseelenallein an oder in den verschiedenen für die Öffentlichkeit geschlossenen Lokalen und stellten diese Auftritte zur Ermunterung ins Netz. Manche boten Einkaufshilfen an, andere waren am Telefon seelsorgerlich aktiv. Händler und Dienstleister kämpften ums Überleben. Und was habe ich gemacht gegen Angst- und Ohnmachtsgefühle?

Sehr schnell haben mein Mann und ich dankbar festgestellt, dass es uns als Rentner mit Haus und Garten und sicherer Einkünfte doch eigentlich sehr gut geht. Leerräume füllten wir schnell damit, Ordnung zu schaffen, zu renovieren, auszusortieren, Briefe zu schreiben. Nicht benötigte Baumwolltischdecken brachte ich zu einer Sammelstelle in die Stadtverwaltung, wo sie eifrigen Näherinnen zur Verfügung gestellt wurden. Und ich probierte auch selber aus, wie das geht, Mund- und Nasenschutz zu nähen. Das hat Spaß gemacht.  Fast täglich waren mein Mann und ich mit den Fahrrädern unterwegs, suchten alle schönen Orte der Umgebung auf und staunten, wie viele es sind. Ebenso oft rief ich jemanden an, um zu hören, wie es ihm geht, ob er Hilfe braucht. Wir öffneten die Tür zu unserem Garten mit Bank, Baumhaus, Schaukel und Sandkasten für Familien, die mitunter nicht einmal einen Balkon hatten. Natürlich galten auch hier die Abstandsregeln. Aber es war befreiend, aus sicherer Entfernung Gastgeber zu sein, für beide Seiten gewinnbringend.

Ostern rückte näher. Gottesdienste waren nicht erlaubt, eigentlich undenkbar, das Fest der Auferstehung ohne Gottesdienst zu feiern.  Ich sprach mit dem Pfarrer der evangelischen Stadtkirchgemeinde. Sollte es nicht möglich sein, die Kirche am Ostersonntag für Besucher zu öffnen? Es war möglich. Glücklich, manchmal noch etwas zögerlich, betraten Christen verschiedener Gemeinden das Kirchenschiff, um zu beten, um eine Kerze anzuzünden, um Bibelworten und der Orgelmusik zu lauschen. Es war ein Kommen und Gehen. In Absprache mit dem Ordnungsamt war ich Ostern mit der Drehorgel in der Stadt unterwegs, spielte vor Altenheimen und in menschenleeren Straßen. Von den Balkonen und aus Fenstern kam Beifall. Es war einfach nur schön.  Ein ganz besonderes Ostern eben.

Ja, der Lockdown hat uns in unserer Freiheit für Monate sehr eingeengt, vielleicht aber auch in gewisser Weise befreit. Auf einmal war zu spüren, dass Leben auch ganz anders geht, ruhiger, entspannter. Vielleicht ist das ja wirkliche Freiheit. Ich muss nicht alles dürfen. Ich muss nicht alles haben. Ich bin so frei, verantwortungsvoll zu handeln mit Rücksicht und Respekt.

Stell dich mitten in den Regen… und versuche gut zu sein. Für mich heißt das: Mache das Beste aus jeder Situation deines Lebens, auch wenn es eine Krisensituation ist. Lass dich nicht von der Angst bestimmen, denn Angst macht unfrei. Der Film- und Theaterregisseur, Autor und Aktionskünstler Christoph Schlingensief sagte einmal: „Die Freiheit, gut zu sich selber zu sein, darf man möglichst nicht beschneiden.“ Auch nicht in Corona-Zeiten. Ingrid Ebert

Erschienen in “miteinanderunterwegs” 5/2020

Der Anfang vom Ende

Die letzten Monate der DDR

Ich glaube, es war der Psychoanalytiker C.G. Jung, der gesagt hat, man könne die zweite Lebenshälfte nicht nach dem Muster der ersten leben. Aber schon die Bezeichnung zweite Lebenshälfte lässt mich kritisch aufhorchen. Wann beginnt die denn? Um das zu errechnen, müsste ich ja um mein Ende wissen. Die mittlere Lebenskrise, wann genau sollte die mich also erwischen? Mit 30, mit 40, mit 50? War ich nicht immer wieder einmal in der Krise? Als Schülerin der Erweiterten Oberschule, als angehende Journalistin, später im Beruf. Als ich um die 40 Jahre alt war, erwischte es mich heftig. Und nicht nur ich war damals in der Krise, mein ganzes Land war es. Es war nicht die erste kritischen Situation im Leben der DDR. Aber das Geschehen rund um den 17. Juni 1953 habe ich – damals noch keine fünf Jahre alt – ja nicht wirklich mitbekommen, und den Bau der Mauer im August 1961 habe ich als Teenager zu Hause wortreich verteidigt. Schließlich hatte man es uns in der Schule genau erklärt. Unser Staat musste sich schützen.

Jeder, der von der vorgegebenen Linie abwich, wurde zum Gegner erklärt, denn er goss Wasser auf die Mühlen des Feindes. Ich erinnere mich an die Bluesmessen in Berlin, an Free-Jazz in Peitz, an Friedensbibliotheken, an die kleinen Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“, an Bekenntniskreuze, an die Treffen junger Christen in Hirschluch, bei denen es um Frieden und Bewahrung der Schöpfung ging. Sand im Getriebe. Es knirschte schon lange. Wahrscheinlich stimmt es, dass jede Diktatur den Untergang in sich trägt.

1989 war ich 41 Jahre alt, ein wenig älter als das Land, in dem ich lebte. Ich war erwachsen. Jetzt schaute ich nicht mehr nur auf die mit Parolen und Fahnen gespickte Bühne. Jetzt wagte ich den Blick hinter die Kulissen. Und was ich da sah, machte mir Bauchschmerzen. Konnte ich noch länger guten Gewissens Mitglied der CDU sein, in die ich einst eingetreten war, um mich als Christin politisch zu engagieren? Konnte ich noch länger guten Gewissens als Redakteurin arbeiten, sehend Schönfärberei betreiben, schlucken, verschweigen? Ich litt immer mehr unter der Diskrepanz zwischen Schein und Sein des Staates, erlebte, wie Freunde weggingen, fragte mich nach Gründen, weshalb ich bleiben wollte. Ja, ich wollte bleiben. Mich zog nichts in den goldenen Westen. Mir fallen Worte ein aus meinem ersten Buch, „Auf der Suche“ ein, herausgegeben 1987 in der Evangelischen Versandbuchhandlung O. Ekelmann Nachf. Berlin. „Warum soll ausgerechnet ich mich ausgerechnet hier mit ausgerechnet dem und dem bemühen? Und dann fällt mir der Spruch ein, den ich irgendwo las: Wohin Gott dich gesät hat, sollst du blühen.“ Gott hatte mich doch hierher gesät, in die Niederlausitz, zwischen Kiefernwälder und Heidekraut, an die Oder-Neiße-Friedensgrenze.  Hier war meine Heimat. Andererseits liebt man wohl nur, was man auch verlassen kann. Mit welchem Recht, so habe ich mich oft gefragt, sperrt eine Regierung ein ganzes Volk ein?

Ende der 80er Jahre wuchs die Unzufriedenheit rapide. Hunderte verließen fluchtartig das Land. „Wir weinen denen keine Träne nach“, stand in der Zeitung. Aber mir war zum Weinen. War es denn gut, zu gehen? War es richtig, zu bleiben? Immer häufiger ertappte ich mich dabei, Entschuldigungen zu suchen dafür, dass ich im Lande blieb, bleiben wollte. Hier hatte ich meine Gemeinde, in der ich meine Aufgabe sah. Hier lebten unsere Eltern, die wir auf gar keinen Fall zurücklassen wollten. Hier gingen unsere Kinder zur Schule. Hier waren die Freunde. Nein, die schon nicht mehr. Immer mehr Freunde und Bekannte suchten das Weite. Die Stuhlreihen in der Forster Baptistengemeinde lichteten sich. Unseren Kreis für junge Erwachsene hatten wir aufgegeben, weil uns die Bespitzelung durch den Staatssicherheitsdienst zu gefährlich wurde. Wir konnten ja nicht einmal mehr im Freundeskreis frei reden. Das hat viele Beziehungen nachhaltig gestört.

Die Montagsdemonstrationen, der Aufruhr in Leipzig und Berlin, das alles machte mir Hoffnung und Angst zugleich. Wie wird das ausgehen? Aber wenn ich mich in unserer kleinen Stadt einreihte in die Friedensgebete, dann war da vor allem Hoffnung. So, wie bisher konnte es doch nicht weitergehen. Es musste sich etwas ändern.

Und dann, Mitte Oktober 1989, las ich in der „Union“, der Tageszeitung der CDU: „Es ist möglich miteinander zu reden“. Zum ersten Mal las ich ehrliche, offene Worte über die Geschehnisse in Dresden, menschliche Worte über die Demonstrationen. Ich heulte drauflos. Hier begann etwas Neues. Hier brach sich die Wahrheit Bahn! Einmal aus der Sprachlosigkeit herausgetreten, gab es kein Schweigen mehr. Vier Wochen später fiel die Mauer.

Es gibt Lebenserinnerungen, die sitzen fest. Tief haben sie sich eingegraben, eng verbunden mit großen Emotionen und der Erfahrung, dass von heute auf morgen alles ganz anders sein kann. Die Nacht zwischen dem 9. und dem 10. November 1989, ist sie wirklich schon dreißig Jahre her? Was wir erlebten, fassten wir damals in einem Wort zusammen:  Wahnsinn. Die Mauer in Berlin zerbröselte in viele kleine bunte Betonstücke, gerade gut genug als Souvenir für Touristen aus aller Welt. Noch heute staune ich und bin voller Dank. Was vor drei Jahrzehnten passierte, hat meinen Glauben an die unbegrenzten Möglichkeiten Gottes gestärkt. Aber wenn mich heute einer fragt, ob ich das Ende der DDR habe kommen sehen, dann kann ich nur sagen: Nein. Ich wollte eine neue DDR – mit Reisefreiheit, Pressefreiheit, Demokratie, Religionsfreiheit, Gleichberechtigung. Ich wollte ohne Bespitzelung leben, ohne ideologischen Druck.

Heute erschrecke ich vor der Gier nach Macht und Geld. Ich erschrecke, wenn ich sehe, dass unser Alltag bestimmt wird von der Angst, zu kurz zu kommen. Mich schrecken die Hassbotschaften im Netz, die Terroranschläge. Die Gesellschaft ist geteilt. Ist es noch möglich, miteinander zu reden? Vielleicht sollten wir C.G. Jungs Worte beherzigen und endlich anfangen, nach einem neuen Muster zu leben. Christus hat es um vorgelebt.

Ingrid Ebert

erschienen in “Die Gemeinde” Nr. 22 am 3.November 2019

Leben zwischen Wunschkonzert und Wirklichkeit

„Wünschen kann man sich alles“, sagte meine Großmutter immer, wenn ich ihr als Kind mal wieder meine Wünsche anvertraute. Heute höre ich dagegen oft den Satz: „Das Leben ist kein Wunschkonzert.“ Heißt das, dass ich aufhören soll, mir etwas zu wünschen, auf etwas zu hoffen?

Als ich 70 Jahre alt geworden bin, war das ein guter Anlass, zu überlegen, wie das mit meinen Wünschen war und was daraus geworden ist. Lehrerin wollte ich werden, was allerdings meine Stimmbandknötchen verhinderten. Gott sei Dank, sage ich heute, denn als Journalistin habe ich genau das für mich gefunden, was wirklich zu mir passt. Auch, was die Partnerwahl betrifft, hatte ich ziemlich feste Wunschvorstellungen (zwei Jahre älter, zehn Zentimeter größer, Kunsterzieher oder Pressefotograf) und fand schließlich einen ganz anderen Mann für mein Leben. Gott sei Dank!  So Gott will feiern wir in vier Jahren Goldene Hochzeit. Als Teenager zog es mich mit aller Kraft nach Berlin, in die Metropole, dahin, wo was los ist. Auch wollte ich nie ein Haus mit Garten, wollte mobil sein und unabhängig, die Welt bereisen. Heute bin ich dankbar, in einer ruhigen Kleinstadt zu leben, wo man sich kennt und grüßt und auch mal hilft. Ich bin dankbar für Haus und Garten. Und das Reisen? Der Wunsch, recht viel von dieser Welt zu sehen, der war schon sehr stark ausgeprägt. Ich hoffte ja auch, als Journalistin herumzukommen, mir als Auslandsreporterin selber ein Bild machen zu können von anderen Ländern und ihren Sitten. Aber dann arbeitete ich viele Jahre als Lokalredakteurin. Und das war gut so. Die Sehnsucht, den Horizont zu erweitern, Erfahrungen zu sammeln, blieb. Am 15. Mai 1989 schrieb ich in mein Tagebuch: „Jeder müsste das Recht haben, sich die Welt anzusehen, bevor er sie wieder verlassen muss. Ich lebe nur einmal auf dieser Erde. Und was weiß ich von ihr? Reichlich wenig.“

Was waren damals meine Sehnsuchtsorte? Da gab es eigentlich gar nicht so viele. Ich wollte unbedingt einmal Ebbe und Flut erleben. Wie sieht das aus, wenn sich das Meer zurückzieht? Wie ist das, wenn die Flut kommt? Mit welchem Recht wird mir verwehrt, das mit eigenen Augen zu sehen? Die erste Westreise nach dem Mauerfall ging dann entsprechend nach Norden, nach Bremerhaven und an die Nordsee. Aus meinem Tagebuch am 16. August 1990: „Endlich geht mein Traum in Erfüllung: Die Nordsee erleben. Stundenlanges Wattlaufen. Ebbe. Ich wate im Schlick umher und genieße die Weite und die Stille. Das ist pures Glück“ Als ich von dieser Reise nach Hause kam, war das Buch „Revolution der Kerzen“ eingetroffen, an dem ich mitgearbeitet hatte. Drei Belegexemplare für mich. Das ließ mich hoffen, dass es weitergeht mit dem Schreiben, dass ich als Autorin Fuß fasse im geeinten Deutschland.

Erst einmal aber wurde ich arbeitslos, eine Situation, mit der ich nie gerechnet hatte. Zwar fand ich schon bald eine neue Anstellung, aber alles, was ich mir über Jahre aufgebaut hatte, fiel in sich zusammen. Mein Plan, von der Lokalredaktion in die Beilage zu wechseln, platzte wie eine Seifenblase.  Vielen Kollegen ging es wie mir. Eine Freundin, die beim Berliner Rundfunk gearbeitet hatte, musste all ihre Tonaufnahmen eigenhändig vernichten und die Arbeitsräume besenrein zurücklassen. Viele wurden einfach „abgewickelt“. Manche kamen nie mehr auf die Beine. So hatte ich mir die Zeit nach der Wende nicht vorgestellt.  Was war aus der Hoffnung geworden, gemeinsam ein neues, gerechteres Deutschland aufzubauen? Sehr schnell hatte sich die Euphorie des 89er Herbstes verflüchtigt, ja zum Teil in eine lähmende Lethargie verwandelt. Dennoch liegt mir heute kein Klagelied auf den Lippen. Lob und Dank überwiegen alles Schwere jener Tage.  Wenn auch nicht alle Wünsche in Erfüllung gegangen sind, so denke ich doch an vieles mit großer Dankbarkeit zurück. Besonders eben an die Reisen in ferne Länder und die damit verbundenen Erfahrungen.  Ich erinnere mich, dass einer meiner Sehnsuchtsorte in Form eines Bildes auf unserem Dachboden hing. Es war wohl aus einem Fotokalender. Ich weiß gar nicht mehr, wo ich es herhatte. Es zeigte den Piccadilly Circus bei Nacht. Mich faszinierte die strahlende Leuchtreklame. Da möchte ich mal sein, dachte ich jedes Mal, wenn ich das Bild sah. 1994 waren mein Mann und ich mit einer Reisegruppe unterwegs nach Coventry. Wir wollten mehr über die Nagelkreuzgemeinschaft erfahren und darüber, wie Versöhnung gehen kann. Wir übernachteten in einem Londoner Vorort. Zum Schlafen war uns allerdings die eine Nacht viel zu schade. Wir fuhren mit der Tube, der ältesten U-Bahn der Welt, aufs Geradewohl in die City. Irgendwo stiegen wir aus. Über eine Rolltreppe ging es steil nach oben, und dann war er da plötzlich vor mir, genauso, wie auf dem Bild zu Hause, der Piccadilly Cirkus.

Einmal auf den Spuren Jesu zu wandeln, auch dieser Wunsch ging schon recht bald nach der Wende in Erfüllung. Auf dem Ölberg zu stehen, im Garten Gethsemane stille zu werden, durch Jerusalem zu gehen, Bethlehem kennenzulernen, im See Genezareth zu schwimmen, an der Klagemauer zu beten – Gott sei Dank konnte ich das alles erleben. Als ich dann auch noch eines Tages vor den Pyramiden in Ägypten stand, war meine Wunschliste eigentlich schon abgehakt. Paris, Riga, Oslo, Wien, Istanbul, Rom, die Silberstraße in Spanien, der Jakobsweg, das Nordkap… Das waren alles Zugaben. Das zu sehen und darüber auch wirklich Reportagen zu schreiben, hatte ich mir in dieser Fülle gar nicht träumen lassen.

Heute sind es andere Wünsche, die meine Sehnsucht bestimmen. Der Wunsch, dass Freiheit und Frieden zusammengehen. Der Wunsch nach mehr sozialer Gerechtigkeit. Der Wunsch, dass unser Miteinander gelingt und wir die Schöpfung, zu der wir gehören, besser bewahren.

Meine Großmutter lebt schon lange nicht mehr. Aber ich höre sie noch sagen: „Wünschen kann man sich alles.“                                                                                          Ingrid Ebert

erschienen in “Leben” Das Blatt mit der guten Nachricht / Marburger Medien 2019

 

Sein Haus hat offene Türen (und einen Kamin)

Wir haben ein Gästehaus in unserer Gemeinde. Wir haben einen offenen Kamin. Wir haben eine Küche. Es war um die Jahrtausendwende, als ich darüber nachdachte, was sich mit diesem Kapital machen ließe, um unterschiedliche Menschen zu erreichen, vor allem solche, die mit Kirche nichts am Hut haben oder hatten. Von denen gibt es in meiner Heimat sehr viele. Im Land Brandenburg sind reichlich 80 Prozent aller Menschen konfessionslos. Die meisten von ihnen vermissen nichts, wenn sie am Sonntagmorgen keinen Gottesdienst besuchen. Sie wundern sich eher, dass andere das freiwillig und mit Freuden tun. Die meisten kennen die Bibel nicht. Sie haben keine Ahnung, was es heißt, Christ zu sein. Sie glauben nicht an Gott und wollen daran auch nichts ändern. Schon gar nicht wollen sie missioniert werden. Wie also Gottes Liebe in die Welt tragen?

Mir schwebte eine Veranstaltungsreihe vor für Christen und Nichtchristen. Einheimische und Zugezogene sollten sich näherkommen, Deutsche und Russlanddeutsche und Flüchtlinge. Eine Plattform sollte diese Reihe sein für alle, die unterhaltsame, lehrreiche, spannenden und entspannende Abende in den Wintermonaten mitgestalten und erleben wollen. Ohne großen finanziellen Aufwand. Wir machen uns einfach selbst ein paar schöne Stunden. Das war der Plan. Aus dieser Idee erwuchs ein vielfältiges Programm. Medien kündigten die Veranstaltungen an und berichteten hinterher oft über sie. Eingeladen habe ich aber auch auf Straßen und Plätzen und mit Aushängen in Geschäften. Zuerst kamen fünf, dann fünfzehn, dann fünfzig Gäste. Anfangs zögernd, später oft schon eine Stunde zu zeitig, einfach, um da zu sein und eine Tasse Tee zu trinken, um zu reden. Manche brachten Tee mit oder Teelichter oder Kaminholz oder Ideen und machten so den Abend zu ihrer eigenen Sache. Genauso hatte ich es mir gewünscht. Einige kamen immer wieder, andere nur, wenn sie das Thema interessierte.

Ich spürte auch Gegenwind. Glaubensgeschwister fragten: „Was bringt ein solcher Abend, an dem keine christlichen Lieder gesungen werden, der nicht mit einem Gebet beginnt und mit einem „Der Herr segne uns und behüte uns…“ schließt? Was hat das mit Mission zu tun? Sind kulturelle Veranstaltungen Gemeindearbeit? Kommen Menschen dadurch zum Glauben und zu den Gottesdiensten? Haben sich schon welche taufen  lassen? Ist eure Gemeinde dadurch gewachsen?“ Diese Fragen haben mich irritiert. Mit Musik und Literatur, mit Arztvorträgen und Reiseberichten, mit Volksliedersingen und ausgelassenen Tänzen, mit Gesprächsrunden, auch über Tabuthemen wie Suizid, Essstörungen, Homosexualität und mit heiteren Stunden wollte ich ja nicht mehr und nicht weniger, als dass Menschen zueinanderfinden, sich austauschen, dazulernen, offener werden, dass sie ihre Sorgen ablegen, dass sie sich wohlfühlen, alle miteinander und dann heiter oder nachdenklich nach Hause gehen.

Nach zehn Jahren Kaminarbeit haben wir uns eine bunte Jubiläumsfeier gestaltet. Es hat mich sehr berührt, wie viele ehrliche Dankesworte gesagt wurden. Ein halbes Jahr später trafen wir uns alle zu einem Sommerfest auf dem Gemeindehof. Wieder haben zum Gelingen viele beigetragen. Mehrheitlich waren das keine Christen, sondern Menschen, die sich einladen und begeistern ließen. Dreizehn Jahre lang veranstalten wir sechs bis sieben Kaminabende in den Wintermonaten. Sie standen allesamt unter dem Motto „Wenn’s dämmert“. Auch mir ist in dieser Zeit ein Licht aufgegangen.  Eigentlich sind es mehrere Lichter.

  1. Menschen lassen sich einladen. Auch heute noch. Sie kommen, wenn sie Interesse am Thema haben. Sie kommen wieder, wenn sie sich wohlgefühlt haben in der Gemeinschaft, ja, wenn sie Teil dieser Gemeinschaft sind und sich einbringen können.
  2. Gottes Gegenwart und seine Liebe zu uns zeigt sich im gelingenden Miteinander. Da, wo wir uns annehmen, wo wir einander tolerieren und achten in unserer Verschiedenheit, da wird Gott sichtbar. Er möchte, dass unser Leben gelingt.
  3. Die gute Nachricht vom vergebenden und versöhnenden Gott in die Welt zu tragen, heißt zuerst einmal Vergebung und Versöhnung zu leben.
  4. Es kommt wohl nicht darauf an, ob dabei etwas für die Ortsgemeinde herausspringt, ob Mitgliederzahlen wachsen und finanzielle Sorgen abgebaut werden.

Auch, wenn es die Veranstaltungsreihe „Wenn’s dämmert“ in diesem Umfang nicht mehr gibt – die Prioritäten haben sich geändert, mein  Kraftpensum auch – hin und wieder lädt die Gemeinde zu weiteren Kaminabenden ein. „Reis trifft Kartoffel“, hieß es letztens. Und Gundolf Lauktien, Berlin, wird am 25. November sein Buch „Ich bin klein, aber mutig!“ vorstellen. Ich freue mich schon.

Übrigens sagte neulich jemand zu mir: „Ich wäre Sonntag beinahe zu Ihnen in den Gottesdienst gekommen, aber ich weiß ja nicht, was man da machen muss. Oder kann man bei Ihnen auch einfach dasitzen und zuhören?“ Ingrid Ebert

Sie ist schwarz

Für alle, die den Roman „Die Hütte“ von William Paul Young nicht kennen, versuche ich, in Kürze zu schildern, um was es geht. Zuerst einmal geht um ein Verbrechen. Ein sechsjähriges Mädchen wird entführt, missbraucht und ermordet. Das stürzt Mackenzie Allen Phillips, den Vater des Kindes, in tiefe Trauer und lässt ihn mit Gott hadern. Nach vier Jahren ist er in seinem Trauerprozess noch nicht weitergekommen. Da überrascht Gott Mackenzie mit einem Brief. Gott lädt ihn an den Tatort, in die Hütte, ein, um sich ihm zu erklären. Es geht also um Leid und um die Fragen nach dem Warum. Es geht um die Rolle Gottes im Weltgeschehen und letztlich um den Versuch, Gottes Wesen zu erfassen. Hier nun kommt die nächste Überraschung: Der Dreieinige Gott im Roman zeigt sich Mackenzie in drei Personen. Da ist Papa, eine große, dicke Afroamerikanerin (Gott Vater), von der man sich gerne tröstend an die Brust drücken ließe. Sollte „Die Hütte“ verfilmt werden, wäre wohl Whoopi Goldberg die ideale Besetzung. Da ist eine kleine Asiatin, die den Heiligen Geist verkörpert und da ist der Hebräer (Jesus), ein gutmütiger Handwerker, ein Scherzkeks, wie ihn Papa bezeichnet.

 

Darf man das machen? Darf ein Autor seiner Phantasie derart freien Raum lassen, wenn es um Gott geht? Gottvater als dunkelhäutige Frau darzustellen, scheint originell, ist aber nicht neu. Es erinnerte mich an einen Witz aus der Zeit der Rassenkämpfe in der USA: Jurij Gagarin, erster Mensch im Weltall, hat ein Treffen mit Staats- und Parteichef Chruschtschow. „Hast du da oben Gott gesehen?“ fragt Chruschtschow. „Ja, das habe ich.“, meint Gagarin. „Das habe ich mir gedacht – hier hast du 10.000 Dollar und kein Mensch erfährt davon!“ Später hat Gagarin eine Audienz bei Papst Johannes XXIII. „Hast du da oben Gott gesehen?“, fragt der Papst. „Nein“, meint Gagarin. „Das habe ich mir gedacht – hier hast du 10.000 Dollar und kein Mensch erfährt davon!“ Schließlich hat Gagarin ein Meeting mit dem Präsidenten der USA, Kennedy. „Hast du da oben Gott gesehen?“, fragt Kennedy. „Ja“, meint Gagarin. „Nun, letztlich ist mir das ja egal. Ich habe genauso viele Atheistinnen wie Theistinnen (Gläubige) unter meinen Wählerinnen.“ Juri überlegt kurz und antwortet geistesgegenwärtig: „SIE ist schwarz…“

 

Wir sollen uns kein Bild von Gott machen. Gott will keine Figur aus Holz oder Stein sein, die in einer Gebetsecke steht. „Ich bin“, sagt Gott. Das muss genügen. Genügt uns aber nicht. Wir brauchen Bilder, um uns Gott zu nähern, um ihn zu erfassen. Die Bibel bietet uns solche Bilder die Fülle. Sie beschreibt Gott als Vater, als Fels, als König, als Schild, als Löwe, als Hirte, aber auch als Mutter, als Quelle, als Glucke, als Bärin, als Licht, als Liebe. Trotz all dieser unterschiedlichen Bildworte sitzt ein Bild in uns ganz besonders fest. Es ist das Bild vom „lieben Gott“, vom alten Mann mit langem, weißem Bart, gütig und gerecht. Deshalb zucken wir zusammen, wenn uns Gott als Frau entgegenkommt. (Mancher zuckt ja schon, wenn eine Frau auf der Kanzel steht und predigt.) Warum zuckt keiner, wenn Gott als Mann gedacht und gezeichnet wird? Vielleicht ist Gott ja auch Kind. Nein, selbstverständlich ist ER, der HERR. Oder? Die Schöpfungsgeschichte erzählt, dass Gott den Menschen zu seinem Ebenbild geschaffen hat, und zwar männlich und weiblich. Also ist Gott nicht männlich, nicht weiblich, sondern beides, wenn wir in diesen Kategorien denken wollen und irgendwie will uns anderes Denken nicht gelingen. Wer weiter in der Bibel liest, wird mit vielen gegensätzlichen Bildern konfrontiert. Gott vergibt und rächt, ist gnädig und gerecht, ist wie eine Mutter, die ihr Kind tröstet. An einer anderen Stelle heißt es: „Gott bin ich, und kein Mann.“ Trotzdem fällt es uns schwer, Gott eben nicht als Mann zu denken. Schließlich nennt Jesus Gott seinen Vater und wir beten das Vaterunser. Alles andere scheint seltsam, ja beinahe unanständig. Geprägt von einer patriarchalischen Gesellschaftsordnung, kommt uns alles erst einmal komisch vor, was dieser Ordnung entgegensteht. Unsere Alltagssprache macht das deutlich. Was Chefsache ist, wissen wir. Über das Wort Chefinsache stolpert sogar mein Rechtschreibprogramm und unterstreicht es rot. Ob der Roman „Die Hütte“ nun als esoterischer Schinken abgetan oder als wichtigstes Buch nach der Bibel gefeiert wird, eines erreicht er auf jeden Fall. Ein Nachdenken über das eigene Gottesbild. Bei meinen Recherchen ist mir eine Kolumne der Journalistin Antje Schrupp auf den Bildschirm gekommen. Darin heißt es: „Niemand kann sagen, dass sie Gott wirklich versteht. Gott ist nicht Einer, sondern Differenz, Gott ist nicht Dieses, sondern das Andere. Gott ist nicht Etwas, sondern die Leerstelle, über die wir nicht verfügen können, von der aber dennoch unser Leben und die ganze Welt abhängen.“ Danke, Frau Schrupp, ich könnte es nicht besser sagen. Ingrid Ebert

 

Atheismus in der DDR

Als ich laufen lernte, gehörten über 90 Prozent der Einwohner meines Landes – der eben gegründeten DDR – einer christlichen Kirche an. Heute sind es laut Statistik in den neuen Bundesländern nur noch 25 Prozent. Auch die Zahl färbt schön, denn keine zehn Prozent glauben an einen „persönlichen Gott“. Fast jeder zweite Bürger zwischen Oder und Elbe bezeichnet sich als Atheisten. Eine US-Untersuchung ergab, dass das Gebiet der ehemaligen DDR weltweit das religionsfreieste Land ist. Ich bin Teil einer extrem kleinen Randgruppe. Was ist passiert in den sechs zurückliegenden Jahrzehnten und wie setzt sich die Entwicklung fort? Erfüllt sich, was mir einst die Lehrer prophezeiten? „Kein gebildeter Mensch glaubt noch an den lieben Gott. Nur ein paar alte Weiblein. Und die sind bald weggestorben.“ Wie oft habe ich das in der Schule gehört.  „Wir brauchen keinen Kirchenkampf, das mit der Kirche hat sich ohnehin bald erledigt.“ Nun, es hat sich bis heute nicht erledigt. Und damals? Immer wieder knisterte es zwischen der DDR-Führung und den Kirchen, die im Wendeprozess eine entscheidende Rolle spielten. In den 50er Jahren zeigte sich der Kirchenkampf grobschlächtig, später subtiler. Erstaunlich, mit welchem Druck die Machthaber gegen Gott kämpften, der ihrer Meinung nach gar nicht existierte, und gegen die Kirche, die sich – wie sie sagten -  sowieso bald in Luft auflösen würde. Sie propagierten in allen Lebensbereichen ein nichtreligiöses und materialistisches Weltbild. Vielleicht war es gerade der Druck, der den Gegendruck erzeugte und Glauben lebendig hielt. Vielleicht haben die Repressionen genau das Gegenteil erreicht: Rückgrat,  festen Glauben, Zusammenhalt, Gebete, das Lesen in der Bibel. Wie das für mich war, als Christin in der DDR zu leben, habe ich im Buch „Hammer, Kreuz und Schreibmaschine“ öffentlich gemacht. Oft werde ich auf das Buch hin angesprochen. Leider ist es vergriffen und fand bisher keine neue Auflage.

 „Die Partei, die Partei, die hat immer recht…“ textete Louis Fürnberg 1950. Mit der Partei war die SED gemeint, 1946 aus KPD und SPD zwangsvereint. Sie musste immer Recht haben, weil ihr Fundament die, wie sie erklärte „einzig wissenschaftliche Weltanschauung“ war. Der atheistische Marxismus-Leninismus war in seinem Absolutheitsanspruch besonders in der Volksbildung spürbar. In den 50er Jahren galten Christen als Feinde des Volkes und des Fortschritts. Ende der 60er Jahre stellte man sie mehr als naive Menschen hin. Es war nicht zeitgemäß, an Gott zu glauben. Spätestens als Schülerin begriff ich das und erkannte, dass ich mich entscheiden muss. Später ging es unseren Kinder ebenso.

23. August 1984:  „Thälmannpionier werde ich aber nicht“, sagt Thomas mit großer Bestimmtheit. „Ich bin doch jetzt getauft und will richtig als Christ leben.“ Wir setzen uns abends mit ihm zusammen. Er soll wissen, welche Konsequenzen seine Entscheidung hat. „Wenn du kein Pionier bist, bekommst du keine Auszeichnungen mehr“, sage ich. Thomas: „Das ist nicht so schlimm. Ich lerne ja nicht für die Auszeichnungen.“ Ich weiter: „Wahrscheinlich werde ich dann nicht mehr im Elternaktiv mitarbeiten dürfen.” Thomas: „Dann müssen die sich eben jemand anderes suchen, der die Arbeit macht.“ Ich: „Und es kann sein, dass du später nicht studieren darfst, dass du nicht jeden Beruf erlernen darfst.“ Thomas: „Gibt es nicht auch bei der Kirche Berufe?“ Ich bin stolz auf ihn. Er weiß, was er will.  Auch Gesine und Michael sind sich einig: „Wir werden nicht Pionier.“ Gesine setzt noch eins drauf: „Man kann nur an Jesus glauben oder an Erich Honecker.“

Wer sich als Christ bekannte, wurde belächelt, bestraft, zum Außenseiter degradiert und benachteiligt. Undenkbar war eine Karriere im Staatsdienst oder in leitenden Funktionen. Schon das Abitur blieb vielen verwehrt und damit ein Studium. Unter Druck gerieten selbst die Grundschüler.

 „5. März 1985:  Gesine kommt aufgeregt von der Schule nach Hause. Sie bringt ihre beste Freundin Ina mit. Die ist ganz aufgelöst und weint. Beide erzählen abwechselnd, was in der Schule passiert ist. Die Klassenlehrerin hat die Mädchen in der großen Pause zurückgehalten und auf sie eingeredet. „Weil Ina jetzt auch in den Kindergottesdienst geht“, sagt Gesine. „Sie hat gesagt, die Kirche hat Kriege gemacht und Menschen verbrannt und gefoltert, und es gibt gar keinen Gott, hat sie gesagt.“ Offensichtlich hat Frau K. die große Pause dazu genutzt, die Mädchen einzuschüchtern. Zwanzig Minuten lang hat sie ihnen in schauerlicher Weise die Kirche des Mittelalters vor Augen gehalten und die Kinder unter Druck gesetzt. Ina schluchzt: „Wenn ich in den Kindergottesdienst gehe, darf meine Mutti nicht mehr in der Elternvertretung mitarbeiten.“ Gesine ergänzt: „Ja, und Ina soll dann daran schuld sein.“ „Und ich kriege dann auch nicht das rote Halstuch“, weint Ina, und Gesine berichtet: „Und ich darf nicht mehr andere Kinder in den Kindergottesdienst einladen, hat sie gesagt. Das ist verboten.“

Zur konsequenten „De-Christianisierung“ gehörte das Füllen christlicher Festtage mit neuen Inhalten. Alte Weihnachtslieder verschwanden aus Büchern und aus dem Repertoire der Rundfunksender. Christliche Gedichte wurden nicht mehr gelehrt. Wer das Bekenntniskreuz der Jungen Gemeinde trug, bekam Ärger, manchmal auch heimliche Anerkennung.

11. November 1967: Ich stehe an der Haltestelle. Es regnet mehr als es schneit. Zwei  Straßenbahnen sind schon ausgefallen. Alles um mich herum ist nass und grau. Ich habe kalte Füße und werde immer ärgerlicher. Es ist ein ausgesprochen hässlicher Tag. Die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, den Kopf eingezogen und dazu ein Gesicht, dem Wetter angepasst. So stehe ich da. Ein älterer Herr tippt mich im Vorübergehen an und sagt: „Das freut mich aber.“ Schon ist er im Schneegestöber verschwunden. Er hat auf das Ansteckkreuz getippt. Und auf einmal bin ich ganz froh, trotz kalter Füße.

Unmittelbar nach der Wende schrieb mir eine Genossin verbittert: Du wirst ja jetzt gute Berufschancen haben. Du als Christin und Redakteurin einer CDU-Zeitung stehst ja auf der Seite der Sieger.“ Darin täuschte sie sich, wie sich auch all jene täuschten, die gehofft oder befürchtet hatten, dass sich die Menschen in der ehemaligen DDR nach 1989 begeistert wieder dem christlichen Glauben zuwenden würden. Das Gegenteil trat ein.

Und heute? Die wenigsten, mit denen ich zu tun habe, sind radikale Atheisten. Ich kann meinen Glauben in großer Freiheit leben. Den meisten ist das egal. Gott will gefunden werden und keiner sucht ihn. Wo ich lebe, ist das so. Grund zur Resignation? Eher Grund, meinen Glauben lebendig zu leben in der Gewissheit, wie sie der Liedermacher Fritz Müller einst ausdrückte: „Gottes Sache geht weiter durch die Zeit…“

Ingrid Ebert

(Alle kursiv gesetzten Texte sind dem Buch „Hammer, Kreuz und Schreibmaschine“, Oncken Verlag Wuppertal und Kassel, entnommen.)Formularbeginn

Nebenbei bemerkt

wissen die Deutschen westlich der Elbe wahrscheinlich mehr über den 17. Juni 1953 zu sagen, als die, die wie ich in der DDR groß geworden sind. Was ein Teil Deutschlands als heldenhaften Volksaufstand bezeichnete und bis 1990 als „Tag der deutschen Einheit“ feierte, nannten meine Lehrer einen konterrevolutionären Putschversuch, der erfolgreich zerschlagen wurde. Ansonsten sprach man besser nicht von jener Zeit, in der die noch junge DDR ernsthaft in ihrer Existenz bedroht war durch Ernährungskrise, hohe Abgaben, schlechte Ernten, Wohlstandsgefälle, Reparationen, Planwirtschaft, Kirchenkampf und enorme Abwanderungsbewegung. Man sprach besser nicht über jene Tage, in der die Arbeitsnormen ins Unerträgliche hochgeschraubt wurden. Als zehn Prozent mehr Leistung bei gleichem Lohn gefordert wurde, war das Fass voll. Es lief über. Daran konnte auch der rasch eingeleitete „Neue Kurs“ des Politbüros der SED nichts mehr ändern. Zwar gab es Zugeständnisse der Kirche und den bürgerlichen Mittelschichten gegenüber, die Probleme der Arbeiter aber blieben unbeachtet. Und während die einen den Kurswechsel als guten Weg zu einer besseren DDR begrüßten, sahen die anderen in ihm die „Bankrotterklärung der SED-Diktatur“. Nicht nur ein paar aufmüpfige Berliner Bauarbeiter legten die Arbeit nieder, weil sie sauer waren, nein, es kam zu einer Welle von Streiks und Protesten, die das Land überflutete. Eine Million Menschen gingen auf die Straße. Aus dem sozialen Aufschrei wurde ein nicht zu überhörender Ruf nach Freiheit, Demokratie, deutscher Einheit. Was für ein Schock für die DDR-Regierung, die eilig den Schutz sowjetischer Behörden in Berlin-Karlshorst suchte. Was für eine traumatische Erfahrung für die SED-Führung. Ausgerechnet Arbeiter stellten sich dem jungen Arbeiter- und Bauernstaat entgegen. Mit Hilfe sowjetischer Truppen und Panzer wurde der Aufstand vom 17. Juni 1953 im Keime erstickt. Über Verhaftete und Tote legte sich der Mantel des Verschweigens. Aber: Arbeitsnormen wurden zurückgenommen, Lohnkürzungen rückgängig gemacht, Preise gesenkt, Kosten für die sowjetische Besatzung reduziert und Sowjetische Aktiengesellschaften an die DDR verkauft. Nebenbei bemerkt, es gab und gibt in der Geschichte der Menschheit immer wieder Aufstände. Kleine und große. Sie haben eines gemeinsam. Sie wollen Veränderung. Oft ist es der Leidensdruck, manchmal auch die Liebe, die uns Menschen bewegt. Und immer ist es einer, der den Anfang wagt, der aufsteht vom Sofa der Bequemlichkeit, der sich von der Kirchenbank erhebt, der nicht mehr so weiter machen kann, wie es alle machen, der mit seinem Glauben und seinen Gedanken und seinen Zweifeln nicht mehr hinter dem Berg halten will, der Zivilcourage zeigt, Mut zum eigenen Urteil. Wer den Widerstand wagt, wird Widerstand erleben. Vielleicht bleibt er einsam in seinem Protest und wird niedergemacht, denn jeder Aufstand hat seine zwei Seiten. Vielleicht aber erlebt er auch, dass andere nur auf ein solches Signal gewartet und gehofft haben und sich mit ihm erheben und dass heilsame Veränderung geschieht und wir wieder des Weges sind.                                        Ingrid Ebert

Aus “Holzschnitte zur Bibel”
Gedichte und Meditationen

Abel liegt im Felde.
Wohin soll sich Kain legen?
Ruhelos streift er umher.
Er hat den Hirten geschlachtet.
Nun bleibt er unbehütet.
Mit Blut hat er sein Feld gedüngt.
Nun wächst die Angst darauf.

*

Abraham
liebt Isaak.
Schützen will er ihn,
bewahren, behalten,
und doch hält er
das Messer erhoben,
den Sohn zu schlachten
auf dem Altar
des frommen Gehorsams.

Um Gott zu gefallen,
will der Vater
seinen Sohn opfern.

Und Gott
fällt ihm

in den Arm.

*

Du kannst vor dir fliehen
– die Vergangenheit im Nacken
– die Schuld auf den Schultern.

Du kannst dich auch stellen,
kannst dir begegnen
im offenen Kampf.
Keine List mehr,
keine Maskerade.

Wer sich selbst gegenüber steht,
kämpft von allen Kämpfen
den schwersten.

Und wer diese Nacht aushält,
ist am Morgen
gesegnet

*

Schuld trägt sich schwer.
Schon mancher brach zusammen
unter ihr.

Womit du andere bedrückst,
wird dich erdrücken.
Was du dem Nächsten anlastest,
legt sich auf deine Schultern.
Dein Mund verstummt,
wenn er nicht bitten lernst:
“Vergib!”
Blind werden Augen,
die vor Schuld sich schließen,
und Ohren, die nicht hören wollen,
werden taub.

Schuld trägt sich schwer.
Geschehen ist geschehen.
Du kannst dich nicht
entschuldigen,
kannst dir die Last
nicht selber nehmen.

Schwer trägt sich meine Schuld.

*

Pfingsten

Von allen Seiten kamen wir,
verließen die Bequemlichkeit des Gewohnten,
ertrugen die Mühen des Unterwegsseins,
gingen das Risiko hautnaher Begegnung ein.
Zur festgelegten Stunde
am festgelegten Ort
mit einem festgelegten Gott im Herzen.
Wir sind gekommen,
dich zu loben,
dich zu preisen,
dich aus der Enge des Herzens zu lassen.
Indem wir uns einander öffneten,
öffneten wir uns dir.
Und das Wunder geschah:
Du kamst aus uns heraus
und auf uns herab
und warst viel größer
und warst ganz anders.

 

Nun danket alle Gott, mit Kerzen und Gebeten
Zwei Jahrzehnte ist es her. Da fiel die Mauer in Berlin. Eine Diktatur stürzte in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Wenig später wurde aus zwei deutschen Staaten ein Deutschland.

Plötzlich ist alles wieder lebendig
Zwei Jahrzehnte ist es schon her? Ich kann es kaum glauben. Zu lebendig sind die Erinnerungen. Zu schnell ist die Zeit ins Land gegangen. Und wie viel hat sich ereignet seither. Wie vielen Menschen bin ich begegnet? Wie viele Länder habe ich bereist? Trotzdem. Da sitzen wir nun dicht gedrängt in einer kleinen Dorfkirche und erleben ein verspätetes Konzert mit Stephan Krawczyk und Freya Klier. Und da ist sie wieder, die Aufbruchstimmung, die Zeit der Friedensgebete und der kämpferischen Lieder. Eigentlich sollten Freya Klier und Stephan Krawczyk zur Friedensdekade 1987 auftreten. Es war von staatlicher Stelle verhindert worden. Jetzt liest Freya Klier aus jenen fernen, nahen Tagen. Ich spüre, dass mein Herz schneller schlägt, meine Hände kalt werden. “Wenn das Wasser Balken hätte, kämen wir ans andre Ufer …” Die Lieder, die Stephan Krawczyk singt, die Worte schlagen mir auf den Magen. Dabei ist das alles doch so lange her. Dann, vor der Kirchentür, reden wir miteinander, erinnern uns an jene aufregende, spannende Zeit, an die aufkeimende Hoffnung, dass sich Schwerter zu Pflugscharen umschmieden lassen könnten. “Sonne der Gerechtigkeit, gehe auf zu unserer Zeit …”

Dunkle Tage brauchen helle Lichter
Da sind sie wieder, die 80er Jahre. Unter dem Dach der protestantischen Kirchen und in privaten Nischen bildet sich eine politische Opposition. In geschützten Räumen spricht man über Menschenrechte und um ein Friedenschaffen ohne Waffen. Es geht um die Bewahrung der Schöpfung und um Bildungspolitik. Und bald bleiben diese Themen nicht mehr in den geheimen Ecken. Sie drängen an die Öffentlichkeit. Die Unzufrieden-heit unter der Bevölkerung wächst. Viele wagen die Flucht, andere stellen einen Ausreiseantrag. Beides trägt wesentlich zum Zusammenbruch des SED-Regimes bei, wie auch der immer lauter werdende Ruf nach Reformen. Aber dafür ist es wohl längst zu spät. Die DDR befindet sich im 40. Jahr ihres Bestehens. Prunkvoll soll es gefeiert werden. Mit großen Aufmärschen. Proteste gegen die Politik werden am 7. Oktober 1989 auf den Straßen Berlins noch grausam niedergeknüppelt. Auch in Leipzig stehen Tausende schwer bewaffnete so genannte Sicherheitskräfte bereit, um die Montags-Demonstration am 9. Oktober 1989 zu zerschlagen. Aber dann sind es einfach zu viele, die sich in und an der Nikolaikirche versammeln. Zehntausende wagen den Aufstand. Nicht mit Steinen, nicht mit Knüppeln, nicht mit Fäusten – mit kleinen, flackernden Kerzen in der Hand. Mit Gebeten als Rückendeckung. Wie in Leipzig, so auch bald in anderen Städten des Landes. Überall Montagsgebete. Überall Demonstrationen für Frieden und Freiheit.

Gesegnet, die Friedliebenden
Und Gott ist mitten unter ihnen. Sie riskieren viel, als sie die Geschicke ihrer Geschichte selbst in die Hand nehmen, als sie den Umbruch mit friedlichen Mitteln erkämpfen und der Ruf nach Freiheit immer lauter wird. Sie wissen um das Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking. Erst wenige Monate ist es her, dass Panzer rollten, das viele Hundert chinesische Studenten ihren Mut mit dem Leben bezahlen mussten. Erst wenige Monate ist es her, dass das DDR-Regime der Regierung Chinas zur “Zerschlagung der Konterrevolution” beglückwünschte. Im Herbst 1989 drohte auch den DDR-Demonstranten die “chinesische Lösung”. Der Wunsch nach Freiheit aber ist größer als alle Angst vor Repressalien. Sie halten der drohenden Gewalt kleine flackernde Kerzen entgegen. Mehr haben sie nicht. Gott macht, dass es genügt. Er schenkt, was viele kaum zu träumen gewagt hätten. “Mit allem haben wir gerechnet”, soll ein Stasi-Offizier damals gesagt haben, “nur nicht mit Kerzen und Gebeten.” Selig sind die Friedfertigen. Gott sei Dank. Und dann fällt die Mauer, ein Glücksfall in der deutschen Geschichte. Noch immer ein beinahe unglaublicher Akt.

Und auf einmal ist das Gefühl wieder da
“Die Mächtigen kommen und gehen …”
Wenn ich zurückdenke, dann spüre ich wieder etwas von diesem frischen Wind, von der Energie, die uns aus aller grauen Lethargie holte. Ich spüre wieder die Kraft der Montagsgebete, das freudige Gefühl, gemeinsam mit vielen anderen auf einem guten Weg zu sein, sich nicht abbringen zu lassen, sich einzusetzen, das Mögliche zu tun, um schier Unmögliches zu erreichen. Und ich kann Gott nur danken. Denn er hat uns bewahrt in jenen Tagen. Die Wasserwerfer kamen nicht zum Einsatz und es fielen keine Schüsse. Gott hat das Unmögliche bewirkt: Eine friedliche Revolution. Trotz aller Zwänge. Trotz aller Ängste.
Und ich danke Gott, dass ich heute sagen kann: Ich war dabei. Ich habe es erlebt. Plötzlich wurden unsere Lieder lebendig. “Die Mächtigen kommen und gehen und auch jedes Denkmal mal fällt. Bleiben wird nur, wer auf Gottes Wort steht, dem sichersten Standpunkt der Welt!” oder “frei sind wir da zu wohnen und zu gehen …” Ich erinnere mich an die Runden Tische, an die Mühen des fairen Umgangs miteinander, das Lernen von Demokratie.

“Bleiben wird nur, wer auf Gottes Wort steht, …”
Weil ich es erlebt habe, weiß ich, dass es wirklich geht. Dass friedliche Lösungen, selbst Ablösungen, möglich sind. Mit Gottes Hilfe. Vergessen wir nicht, was er uns Gutes getan hat. Er hat unsere Füße auf weiten Raum gestellt. Er hat uns den Mund und die Augen geöffnet. Er hat uns gezeigt, was Gebet vermag. Wir sind 1990 nicht im Paradies angekommen. Die Demokratie, wie wir sie jetzt erleben, ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Wir können uns nicht entspannt zurücklehnen, ganz sicher nicht. “Darum denke mit, darum danke mit, dienen wird die Antwort sein …” Die große Dankbarkeit aber für das, was wir Ende der 80er Jahre erlebt haben, stärkt für künftige Aufgaben und ermutigt in schwierigen Zeiten. Wir dürfen hoffen und gelassen vorwärts schauen. Bei Recherchen im Internet bin ich auf ein Gedicht von Dr. Volker Beer gestoßen. Dichter kann ich es nicht sagen, was Grund großer Dankbarkeit in diesen Tagen ist:

Glauben
kann Mauern niederreißen
Diktaturen stürzen
Armeen entwaffnen
ohne dass ein Schuss fällt -
geschehen
im November Neunundachtzig

Zwei Drittel meines bisherigen Lebens habe ich in der DDR gelebt, ein Drittel im geeinten Deutschland. Ich bin gespannt, was Gott mir noch schenken will – an Jahren, an Bewahrungen, an Segnungen, an Aufgaben.

 

Müssen Christen immer lieb sein?

Es war an einem Samstag. Unsere Kinder, damals noch Grundschüler, standen am Herd. Sie legten Spaghetti in kochendes Wasser, schnitten Würstchen in Scheiben und viertelten Tomaten. Da tauchte ihr Cousin auf. Er wollte spielen und fragte entsetzt: „Müsst ihr selber kochen?“. Antwort: „Was heißt müssen, wir dürfen.“

*

Warum fällt mir spontan diese Episode ein und nicht zuerst der Widerwille, den ich bei dem Wort „Liebsein“ empfinde? „Nun sei aber lieb!“ Das hieß in meiner Kindheit: „Sitz still! Gib Ruhe! Widersprich nicht!“ Erwachsene mögen angepasste, bequeme Kinder, Kinder zum Vorzeigen. Ich war laut, aufsässig und trotzig. Ich war ein rebellierendes Kind. Später beichtete mir meine Mutter, wie froh sie darüber war.

Im Kindergottesdienst sang ich: „Ich wäre gern wie Jesus,  so sanft, so hold und wert! Nie hat man böse Worte aus seinem Mund gehört…“. Es traf mich tief, wenn jemand auf mein Benehmen hin sagte: „Jetzt ist der liebe Heiland ganz traurig.“

16jährig entschied ich mich für ein Leben als Christ. Mich faszinierte das Gebet von Assisi „Herr, mache mich zum Werkzeug deines Friedens“, eines der schönsten Gebete, die ich kenne. „Nicht dass ich getröstet werde, sondern dass ich tröste; nicht, dass ich verstanden werde, sondern dass ich verstehe; nicht, dass ich geliebt werde, sondern dass ich liebe.“ Diesem Anspruch wollte ich mich stellen. Selbstlos lieben. Heute weiß ich, wie nötig auch ich es habe, getröstet, verstanden und geliebt zu werden.

Was heißt das  also, immer lieb zu sein? Ist das Gottes Anspruch an uns? Freunde haben mir geholfen, Antworten zu finden:

-         Immer lieb sein? Das schaffen wir nicht. Aber es sollte uns zu schaffen machen, wenn wir nicht liebevoll miteinander umgehen.

-         Mir fällt „pharisäerhaftes“ Verhalten ein.

-         Wer immer lieb ist, bekommt Neurosen.

-         Zum Menschen gehören auch Zorn und Aggressivität. Unterdrücke ich das, bin ich nicht echt. Dann fehlt es mir an Verständnis für andere.

-         Christen haben Vorbildfunktion. Liebe ist ein wichtiger Maßstab.

-         Es hätte mir eher geschadet,  wenn immer alle lieb mit mir umgegangen wären.

-         Gott ist Liebe, aber nicht der „liebe Gott“.

-         Liebsein heißt oft, alles hinzunehmen. Christen aber sollen für Gerechtigkeit kämpfen, also lieb sein im Sinne von fair.

-         Jesus war auch nicht immer „lieb“. Manchmal hatte er harte Worte für seine Jünger.

-         Man darf nicht Liebsein mit Liebe verwechseln.

-         Liebe und Wahrheit gehören zusammen. Sonst ist es Heuchelei.

-         Lieben müssen, passt nicht zusammen.

-         Liebe ist Weg und Ziel, ohne Liebe ist alles nichts.

-         Manchmal füllt uns Gott so sehr mit Liebe, dass sie aus allen Poren wieder herausströmt. Dann müssen wir einfach lieben.

-         Wenn lieb gleich angepasst, unterwürfig, sich nur selbst schädigend und
den anderen dadurch ermutigend, weiterhin gewalttätig zu sein – dann ein
klares NEIN! Geht es aber beim Liebsein darum, in der Liebe Christi zu leben und zu handeln, ein klares JA.

-         In der Liebe Christi handeln heißt auch, Widerstand zu leisten.

Widerstand, auch gewaltloser, wird nie als lieb empfunden, eher als Sand im Getriebe. Ich denke an Dietrich Bonhoeffer. Er wagte mutig, einer Zeit der Untertanen zu widerstehen.  Sein Engagement für die „Bekennende Kirche“ schockierte deutsche Christen, die von Hitler begeistert waren. Das Attribut „lieb“ passt nicht zu ihm, aber er traf seine Entscheidungen aus Liebe und Verantwortung. Wahrheit tut oft weh.

Wer lieb sein will, will niemanden wehtun. Wer lieb zu einem Suchtkranken ist, wird ihn umsorgen, wird ihm Schwierigkeiten aus dem Weg räumen und die Verantwortung des anderen geduldig auf die eigenen Schultern nehmen. Wer einen Suchtkranken liebt, konfrontiert ihn hart mit der Realität.

Ich bekenne, ich bin manchmal einfach nur lieb, weil ich die Auseinandersetzung scheue, dazugehören möchte und die Sympathie der anderen nicht verlieren will. Aber wer liebt schon einen, der immer lieb ist? Sind wir nicht eher geneigt, „liebe“ Menschen zu ärgern, zu quälen, auszubeuten, weil sie sich alles gefallen lassen?

Wer aber Liebsein so versteht, dass er aus der Liebe heraus lebt, aus Liebe Entscheidungen trifft, aus Liebe handelt, der darf  auf die entsetzte Frage eines Zeitgenossen: „Musst du etwa immer lieb sein?“ fröhlich antworten: „Was heißt muss? Ich darf.“

Wir dürfen darauf vertrauen, dass Liebe durch Konflikte trägt, dass Liebe aufbaut, dass Liebe Leben ermöglicht und ein gelingendes Miteinander. Wir dürfen lieben. Weil Gott uns zuerst geliebt hat.

 

Kunst

Was ist Kunst? Wer darf sich Künstler nennen? Und was hat Kunst mit unserem Glauben zu tun? Lenken uns Kunstwerke vom Glauben ab oder führen sie uns näher zu Gott?

Allein das Wort Gottes soll Maßstab für einen glaubenden Menschen sein. Es soll uns leiten, ermutigen, prägen… Stimmt. Gottes Wort hat Priorität. Als die ersten Baptisten die Bibel für sich entdeckten, lehnten sie alles ab, was sie vom Wort abhalten könnte, zum Beispiel jede Form künstlerischen Ausdrucks in ihren Versammlungsräumen. Erst recht aber: Kino, Theater, Galerien, Ballett, Konzertsäle…

Manche Christen sind den (weltlichen) Künsten gegenüber misstrauisch. Sie können sich nicht vorstellen, dass die gute Botschaft von der Liebe Gottes mit Farben oder Tönen oder gar durch Tanzbewegungen weiter getragen werden könnte. Sie trauen allein dem Wort. Als wäre Wort nicht auch Kunst. Die Psalmen, das Hohelied der Liebe, die bildreichen Geschichten des Alten Testaments, die Gleichnisse, wie sie Jesus erzählt, und schließlich die Visionen des Johannes – was für ein literarisches Kunstwerk ist die Bibel. Schon auf den ersten Seiten erzählt sie in bildreicher Sprache vom größten Künstler aller Zeiten, vom Schöpfergott.

Kunst ist das Ergebnis eines kreativen Prozesses. So gesehen ist unsere Erde mit allem was darauf lebt ein einzigartiges Kunstwerk, und jeder von uns ist es, geschaffen von einem höchst kreativen Gott. Jeder von uns ist ein Unikat.

Ich selber würde mich nicht Künstlerin nennen, aber ich töpfere oder male gerne, filze, fotografiere, schreibe. Es entspannt und erfreut mich. Kreatives Gestalten wird manchem zur wichtigen Therapie nach schwerer Krankheit, in Arbeitslosigkeit, in Sinnkrisen. Andere sind so von dem, was sie sehen und erleben, so beeindruckt, dass sie sich ausdrücken müssen, egal wie. Es ist 30 Jahre her. Wir waren mit unseren Kindern auf dem Rummel. Unsere Zwillinge saßen zum ersten Mal in einem Karussell. Zu Hause ergriff unser 3jähriger Sohn Papier und Stift, und dann malte er in kreisförmigen Bewegungen, was er soeben Beeindruckendes erlebt hatte, immer schneller, immer schneller, bis er es ganz und gar ausgedrückt und das Papier durchgedrückt hatte. Das so entstandene Kunstwerk liegt noch immer in meinem Schrank.

Kreativität ist nichts Mystisches, nichts, was nur Genies und Exzentriker besitzen. Kreativität, das Wort kommt übrigens aus dem Lateinisch-französischem, ist schlichtweg Schöpfungskraft. Jeder, der ein Kind großzieht, der eine Selbsthilfegruppe organisiert oder im Gesangsverein für die Werbung sorgt, ist kreativ. Kreativität hat viele Gesichter. Sie begegnet uns überall. Und jedem ist sie geschenkt, weil wir Geschöpfe eines kreativen Gottes sind, seine Ebenbilder.

Kinder leben ihre Kreativität beinahe hemmungslos aus.  Nur so können sie die Welt begreifen, sich in ihr zurechtzufinden und lebenstüchtig sein. Und wir Erwachsene brauchen das auch. Geben wir uns nicht damit zufrieden, Konsument zu sein oder Nachahmer. Wir dürfen unser kreatives Potential nutzen, um das, was uns beeindruckt, auszudrücken, auch in unserem Glauben. Wir dürfen Erfinder und Schöpfer sein. Kreative Menschen sind offener, erfolgreicher, anerkannter und glücklicher, als bloße Konsumenten.

Am Ende eines jeden kreativen Prozesses steht das kreative Produkt. Es ist neu und einmalig, es überrascht uns und ist von Bedeutung, das heißt, es wird von anderen anerkannt. Jede Kleinkindzeichnung erfüllt diese Kriterien. Malen nach Zahlen erfüllt sie nicht, ist wenig kreativ, aber für manchen ein erster Schritt, schlafende Kreativität in sich zu wecken. Am Ende eines jeden kreativen Prozesses steht die ehrliche Freude über das Produkt. Als Gott die Welt erschuf, so heißt es in der Bibel, sah er sich jeden Abend an, was er tagsüber erschaffen hatte. Und er erfreute sich daran. Es war alles so gut gelungen.

Unsere Arbeitswelt heute ähnelt diesem schöpferischen Prozess oft nicht. Da sind wir abends nur noch geschafft. Umso wichtiger ist es, einen Ausgleich schaffen, etwas, wo wir schöpferisch arbeiten können. Für manchen ist das der Garten am Haus. Andere kreieren tolle Torten oder erfinden neue Gerichte für den Mittagstisch. Und wie viele Gute-Nacht-Geschichten wurden bereits erfunden?

Mich auf kreative Weise dem Worte Gottes zu nähern, dazu hat mich ein Mensch besonders ermutigt: Der sächsische Maler, Grafiker und Holzgestalter Johannes Feige (78), der selber unermüdlich aus der Quelle des Glaubens schöpft. Er lebt seinen Glauben und verleiht dem in seinen Werken Ausdruck. Durch seine Kunst bekommen Menschen den Blick für das Wesentliche. Er führt den Betrachter direkt ins Zentrum der Botschaft.

Kennen gelernt habe ich Johannes Feige Ende der 80er Jahre. Damals machte ich mich mit seinen Holzschnitten zur Bibel vertraut. Sie regten mich an, tiefer in die biblischen Texte einzusteigen, sie zu verdichten, darüber zu meditieren. Seine Bilder gaben sich keine Mühe, zu gefallen. Sie wollten reden, erinnern, mahnen, beeindrucken. Ich habe die Bibel aufgeschlagen, die Texte gelesen, auf mich wirken lassen und meine Gedanken dazu verdichtet. Die Bibel begann zu mir zu reden, eindrücklich, wie nie zuvor.

So ist in Zusammenarbeit mit Johannes Feige ein gemeinsames Buch entstanden. „Holzschnitte zur Bibel – Gedichte und Meditationen“.  Diese Arbeit hat mich sehr im Glauben reifen lassen.

Gottes Wort spricht in vielen Sprachen. Es kann die Sprache der Musik sein, des Tanzes, der Pantomime, der bildenden Kunst. Wichtig ist, dass uns Gottes Wort erreicht. Und um Gottes Wort in die Welt zu tragen, dürfen wir schöpferisch tätig sein. Es macht nichts, wenn wir dabei die Konfrontation mit dem eigenen Ich riskieren. Das macht uns zu Künstlern. Und das schafft uns einen ganz neuen Zugang zu Gott.

 Sprache als Instrument

 „Schreiben ist für mich ein wichtiges, vielleicht das wichtigste Ausdrucksmittel. Etwas so in Worten auszudrücken, das der andere versteht, was ich sagen will, daran arbeite ich. Ich liebe die deutsche Sprache, die so viele Feinheiten in sich birgt. Ich liebe es, wenn ein passendes Wort, manchmal ist es ein Sprichwort, eine Sache auf den Punkt bringt. Nach diesem passenden Wort bin ich immer wieder auf der Suche.“

Wenn ich mich mit diesen Sätzen unter www.ingrid-k-ebert.de im Internet vorstelle, dann hoffe ich, Leser neugierig zu machen auf das, was ich schreibe. Wer schreibt, will gelesen werden. Wer redet, will gehört werden, und er will verstanden werden. Rund drei Jahrzehnte übte ich mich als Redakteurin im Schreiben, seit rund zwanzig Jahren bin ich als Referentin unterwegs und versuche, mit dem gesprochenen Wort Menschen zu erreichen. Und wenn ich auf der Kanzel stehe und laut über Gottes Wort nachdenke und darüber, was dieses Wort mir heute zu sagen hat, dann möchte ich, dass meine Aussagen nicht nur zutreffen, sondern auch treffen. Ob als Journalistin, Referentin oder Laienpredigerin oder Mutter und Ehefrau oder Freundin – ich glaube an die Macht der Worte und versuche, sie bewusst einzusetzen. Es macht einen  Unterschied, ob ich Rauke oder Rucola sage, Unkraut oder Wildkraut, Raub- oder Greifvogel. Es ist nicht gleich, ob ich von Abort, Abtreibung oder Schwangerschaftsabbruch spreche oder, wie es in der DDR hieß, von einer Schwangerschaftsunterbrechung, als könne eine Schwangerschaft unterbrochen und später fortgeführt werden. Es macht einen Unterschied, ob ich von der Mauer rede oder vom antifaschistischer Schutzwall, ob ich von der DDR spreche oder von der Zone. Der Volkspolizist war in der DDR dein Freund und Helfer. Jeder Arbeitsplatz war ein Kampfplatz für den Frieden. Der Jahrestag der DDR war Republikgeburtstag. Viele Redewendungen haben sich mir tief eingeprägt.

In den vergangenen zwanzig Jahren sind mir neue Worte über den Weg gekommen, und die sind oft alles andere als lustig: ausländerfrei, durchrasste Gesellschaft, Überfremdung, Warteschleife, Buschzulage, Personalentsorgung, Freisetzung, kollektiver Freizeitpark, schlanke Produktion, Sozialleichen, Rentnerschwemme, Wohlstandsmüll, Humankapital, Kollateralschaden, Zellhaufen, Herdprämie, Rentnerdemokratie, Frischfleisch.

Sprache kommt aus dem Denken und beeinflusst unser Denken. Eine jüdische Weisheit sagt:

“Achte auf dein Denken, denn aus ihm kommt deine Sprache.
Achte auf deine Sprache, denn aus ihr werden deine Handlungen.
Achte auf deine Handlungen, denn aus ihnen wird dein Schicksal”

Wenn es um die Macht des Wortes geht, kommt mir Victor Klemperer in den Sinn und sein Werk „LTI“. Linqua Tertii Imperii, die Sprache des Dritten Reiches, die aus Mord eine „Endlösung“ machte und den Tatbestand von Zwangssterilisation, Zwangsabtreibungen und Vernichtung „lebensunwerten“ Lebens mit dem Wort Rassenhygiene bezeichnete. Der Philologe erkannte, dass Sprache dazu beitragen kann, Menschen zu verrohen. Haben wir noch ein Gespür dafür, wenn uns Worte etwas vorgaukeln, wenn sie schlimme Sachverhalte abschwächen? Das Unwort des Jahres 2011 ist „Döner-Morde“. Es verharmlost die Mordserie an acht türkischstämmigen und einem griechischen Kleinunternehmer. Die Mörder als Nazi-Trio zu bezeichnen, empfinde ich auch als Fehlgriff in die Wörterkiste. Aber vielleicht ist es gar kein Fehlgriff, sondern eine ganz bewusst ausgesuchte Bezeichnung?! „Döner-Morde“ und „Nazi-Trio“, das klingt doch eigentlich ganz lustig oder? Wie verroht sind wir eigentlich?

Mancher plappert gedankenlos nach, was andere sagen. Der Demagoge aber wägt jedes Wort genau ab, um Menschen zu beeinflussen. Er nutzt die Macht des Wortes für seine Machtbestrebungen. Und er weiß, dass es einen Unterschied macht, ob von Kristallnacht oder Pogrom gesprochen wird, ob von Krieg die Rede ist oder von Friedensmission, von Kampfeinsatz oder Aufbauhilfe oder vom deutschen Engagement am Hindukusch.

„Wurstfabrik“ klingt so brutal. Nennen wir es „Rinder-Mainstreaming“. Das sagt ein Mann in einem gemalten Witz, gefunden in der Sommer-Ausgabe 2011 des „fluter“, einem Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung. Gar nicht so abwegig. Wir sagen ja auch Meeresfrüchte zu Tieren, die wir essen.

Sprache ist ein scharfes Instrument. Wer es gut beherrscht, ist im Vorteil. Mit Worten kann ich trösten und mahnen, ermutigen und beeindrucken, lehren, beschwichtigen, aber eben auch Sachverhalte verzerren, beschönigen, vertuschen. Ich  muss keine Journalistin sein, um mit Worten so umzugehen, wie ich es für meine Zwecke brauche. Wir alle können lügen und verletzen und verharmlosen. Wir können Menschen mit Worten gewinnen und manipulieren. Wir können mit Worten kämpfen und siegen. Luther sprach sogar davon, den Teufel mit Tinte besiegt zu haben.  „Kalte Worte lassen Menschen erstarren, hitzige Worte schmerzen sie. Bittere Worte machen sie bitter, und zornige Worte machen sie zornig. Freundliche Worte bringen gleichfalls ihr Abbild im Gemüt des Menschen hervor: Sie erheitern, besänftigen und trösten ihn.“ (Blaise Pascal)  Das ist uns doch allen schon passiert. Eigentlich haben wir uns wohl gefühlt in einer Gemeinschaft, haben uns gerne eingesetzt, glaubten anerkannt zu sein. Und dann sagt einer ein kleines Wort der Entmutigung – und alles ist anders. Aber auch umgekehrt geschieht es, ein Wort der Anerkennung und schon füllt uns Kraft aus.

Dass Worte mächtig sind, wissen die Machthaber am besten und fürchten sie. In Diktaturen sind Meinungs- und Pressefreiheit eingeschränkt,  öffentlichen Medien werden kontrolliert und zensiert. In der DDR galt Dresden als die Stadt im Tal der Ahnungslosen, da es dort keinen „Westempfang“ gab. In Nordkorea haben die Bürger heute noch praktisch keinen Zugang zu unabhängigen und ausländischen Nachrichtenquellen.

Sprache ist nie neutral. Jedes Wort löst Assoziationen aus – bei dem, der es spricht und bei dem, der es hört. Diese Assoziationen müssen nicht übereinstimmen. Das macht es mitunter so schwer in der Kommunikation. Was mein Wort mit dem anderen macht, ist oft nicht das, was ich wollte. “Um einen Stein zu zertrümmern, braucht man einen Hammer, aber um eine kostbare Vase zu zerbrechen, genügt eine flüchtige Bewegung und um das Herz eines Menschen zu treffen, genügt oft ein einziges Wort” (Eugen Drewermann).

Auch die Bibel weiß um die Macht des Wortes. Da sind die Eingangsworte des Johannesevangeliums: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott.“ Das klingt mir wie ein Mantra. Wie ein Rätsel. Oder ist es die Lösung? Und dann fallen mir andere Sätze aus der Bibel ein, zum Beispiel: „Sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“ Oder: „Lebendig nämlich ist das Wort Gottes und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert…“ Oder: „Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist’s eine Gotteskraft.“ Seltsam, das fällt mir jetzt erst auf. Da steht nicht: Das Kreuz ist Torheit oder Gotteskraft, sondern das Wort darüber, die frohe Botschaft.

Vieles gäbe es noch zu sagen über die Macht des Wortes. Vielleicht ist nur die Liebe eine größere Macht. Denn wer liebt, versteht und wird verstanden. „Und wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete …“                                                                                    Ingrid Ebert